Aus einem Repertoire von 23 Songs, die sich auf die beiden Alben THE BARR BROTHERS und SLEEPING OPERATOR verteilen, hatte die Band am 18. April 2015 fünf Songs ausgewählt, die sie im Vorprogramm für Calexico im Heimathafen Neukölln in Berlin dem Publikum darboten. In der anmutigen Erscheinung der Location mit dem Holzfußboden, den Balkonen in der Zwischenetage, den hohen Wänden und der Theaterbühne wurde die Montréaler Band positiv aufgenommen. Die musikalischen Explosionen der Band wie auch das ruhigere Lied „How the heroine dies“, das die beiden Brüder Brad und Andrew Barr an einem Mikrophon vereinte, wurden enthusiastisch applaudiert.
Während im Anschluss Calexico auf die Bühne des Heimathafens Neukölln ging, traf ich Brad Barr zu einem Interview. Er blickte für mich zurück auf die Entstehung der Band, gewährte mir einen Einblick in sein Leben in Montréal sowie in seinen Schaffensprozess und erzählte mir, wie mein aktueller Lieblingssong von The Barr Brothers „Beggar in the morning“ entstanden ist.

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© J. Dummer

Du und dein Bruder Andrew kommt aus Boston. Vor einigen Jahren habt ihr euch entschieden, nach Montréal zu ziehen. Wie kam es dazu?

Brad: Es gab mehrere Gründe, die uns dorthin führten. Einer davon war, dass wir regelmäßig in Montréal spielten. Jedes Jahr im Mai fuhren wir nach Montréal und gaben dort Konzerte. Mai ist einer der schönsten Monate in der Stadt, weil es da die ersten warmen Tage gibt und das dazu führt, dass jeder in der Stadt glücklich ist. Der schrecklich lange und kalte Winter ist vorbei und das merkt man, wenn man im Mai in Montréal ist. Alle laufen in T-Shirts herum, das Wetter ist toll und die Menschen sind glücklich. Jedes Mal wenn wir in Montréal spielten, hatte ich den Eindruck, dass das dort immer so wäre, dass alle lächeln und nett sind. Das stimmt fast immer. Seit einigen Jahren konnte ich mir bereits vorstellen, dort zu leben. Und dann traf mein Bruder seine zukünftige Frau, die in den letzten drei bis vier Jahren unsere Tourmanagerin war. Er traf sie, als unsere Band ein Konzert gab und sie führten daraufhin ein Jahr lang eine Fernbeziehung. Dann entschied er, nach Montréal zu ziehen und ich entschied, es ihm gleich zu tun. Ich zog etwa einen Monat nach Andrew um, schwankte noch zwischen New York und Montréal. Montréal schien mir aber letztendlich die richtige Wahl zu sein. Seitdem habe ich großartige Erfahrungen gesammelt, mein Leben fühlt sich reicher an und ich liebe die Umgebung und meine Freunde da. Das ist jetzt zehn Jahre her.

Wie hast du damals die Musikszene in Montréal empfunden und würdest du sagen, dass sie sich verändert hat?

Brad: Verändert in den letzten zehn Jahren? Hm, als ich nach Montréal zog, war das die Zeit, in der Arcade Fire gerade dabei waren, sehr groß zu werden. Ich erinnere mich, dass man über sie in der New York Times schrieb. Als wir zuvor regelmäßig nach Montréal kamen, sahen wir noch ein Konzert von Arcade Fire in einer kleinen Kirche. Die Entwicklung von Arcade Fire führte dazu, dass viele Leute auf Montréal aufmerksam wurden. Vor Arcade Fire war es z.B. Godspeed you! Black emperor, die für mich die Quintessenz einer Band aus Montréal darstellten.
In meinem ersten Jahr in Montréal freundete ich mich mit einigen Bands an. Patrick Watson und Plants And Animals sind unsere engsten Freunde geworden und für mich definierten sie immer die Musikszene in Montréal. Und dann ist da noch Lhasa de Sela. Sie ist eine Sängerin, die unterwegs aufwuchs, in Frankreich, Mexiko, den USA und ich glaube, sie zog nach Montréal als sie 20 war. Sie war in der Stadt eine wichtige Referenz. Unser Bandmitglied Sarah spielte oft mit ihr. Ich glaube, als Sarah und ich das erste Mal zusammen spielten, war das das Resultat aus einer Zusammenarbeit mit Lhasa.
Das war der Eindruck der Montréaler Musikszene, den ich damals hatte. Meines Erachtens sind diese beiden Bands gewachsen und haben ihren Sound weiterentwickelt, dabei haben sie ihren starken Charakter beibehalten. Ich würde nicht sagen, dass sich sonst viel in der Stadt verändert hat. Wie siehst du das?

Wenn man das Zeitfenster größer werden lässt, dann gab es in den 1960ern bis 1980ern eigentlich zwei Musikszenen in der Stadt, die ohne große Berührungspunkte nebeneinander existierten. Ich habe in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass eine Annäherung zwischen der frankophonen und der anglophonen Musikszene erfolgt ist.

Brad: Ja, in den 1960ern bis 1980ern polarisierte das sehr. Heute ist das teilweise immer noch so, allerdings auf einem anderen, oberflächlichen Level. Die Musiker sind sehr aufgeschlossen und ihnen ist die Sprachbarriere egal, weil wir ja eh alle ein wenig Französisch und ein wenig Englisch sprechen. Kennst du Fred Fortin? Andrew und ich haben gerade Songs mit ihm aufgenommen. Er ist eine Art barocker Musiksuperheld der letzten zwanzig Jahre aus Montréal und wir haben soeben Songs mit ihm eingespielt. Und Patrick Watson arbeitet mit den Mitgliedern von Karkwa. Plants And Animals sind zwei Anglokanadier aus Nova Scotia und ein Frankokanadier aus Québec. Ich denke, dass es den Musikern, so wie es schon immer der Fall war, nur um die Musik geht, egal welche Sprache sie sprechen. Sie wollen alle zusammen musikalisch überzeugen.

Und wann genau sind The Barr Brothers entstanden?

Brad: Wir sind 2005 nach Montréal gezogen. 2007 hatte ich viele Soloauftritte und ich begann damit, Musik aufzunehmen. Ich dachte, die Songs würden sich zu meiner ersten Solo-CD fügen. Das war, nachdem Andrew und ich 15 Jahre zusammen in der Band The Slip gespielt haben. Die Idee, ein Soloalbum zu machen, war eine nette Idee, aber bald begann Andrew dem Ganzen seinen Touch zu verleihen. Wir haben eine gute Arbeitsbeziehung im Studio. Er ist eher der Produzent und ich mag es, Songs zu schreiben und die einzelnen Teile einzuspielen. Andrew ist sehr gut darin, das Ganze zu sehen. So begannen wir auf eine selbstverständliche Art und Weise an den Songs zu arbeiten, ab und an kam Sarah dazu. Sie arbeitete zu der Zeit noch mit Lhasa zusammen und sie spielte auch noch in der Sinfonie.
2010 veröffentlichten wir dann unsere erste Platte. Wir brachten sie raus, weil uns bald klar wurde, dass es das war, worauf wir uns konzentrieren wollten. Es war keine Solosache mehr für mich. Zuvor gaben wir Konzerte, ich spielte für ein halbes Jahr mit Marie-Pierre Arthur. Ich war dort der Gitarrist und Andrew war Schlagzeuger in der Band Land of Talk. 2008, 2009 entschieden wir, dass wir uns auf unsere eigene Band konzentrieren wollten. 2010 brachten wir das Debütalbum heraus. Das ist für mich der Moment, an dem es so richtig begann.

Ich habe von eurem Konzert im Privatclub in Berlin im September 2014 berichtet. Ihr habt dort die neuen Songs von SLEEPING OPERATOR gespielt, bevor das Album veröffentlicht wurde. Das war cool. Wo wir gerade von Konzerten sprechen: Welches Konzert würdest du in deiner Liste der besten Auftritte platzieren?

Brad: Das beeindruckendste Konzert ist für mich meistens der letzte Auftritt, den wir hatten. Das ist eine interessante Frage, aber ich bin nicht sehr gut mit Superlativen wie „das Beste”, aber lass mich kurz überlegen. Der Auftritt auf dem Jazz Festival in Montréal [2013] war beeindruckend, weil das das größte Publikum war, vor dem wir je gespielt haben. Es waren rund 30 000 Leute oder so. Das sticht in meiner Erinnerung heraus und ist beinah surreal. Ich erinnere mich auch an ein sehr kleines Konzert, bei dem man sich fragt: „Was tun wir eigentlich hier?” wie z.B. in Irland in einer Garage in Belfast. Es war eine Art Bed&Breakfast, das in der Garage Konzerte organisiert. Es war ziemlich klein und nur circa 45 Leute passten hinein.

Heute habt ihr als Vorband von Calexico den Abend vor rund 700 Leuten eröffnet. Welchen Eindruck hattest du von der Bühne aus?

Brad: Gerade in Berlin wollte ich ein gutes Konzert spielen, eben weil es Berlin ist. Es gibt so viel Mythen über Berlin so wie über Montréal. Beide Städte sind einander darin ähnlich. Jeder weiß, dass es dort eine gute Öffentlichkeit gibt und dass die Menschen unkompliziert sind. Das finde ich reizvoll. Für mich war es wichtig, ein gutes Konzert zu geben und ich denke, das haben wir getan, vielleicht auch Dank der Leute, die uns schon kannten, bevor wir auf die Bühne kamen. Wir sind zufrieden. Calexico hat ein großartiges, teilweise älteres Publikum. Es ist die Generation, die vermutlich 14 Jahre alt war, als Jimi Hendrix und Led Zeplin raus kamen. Sie haben guten Rock’n’Roll erlebt. Daran erinnerte ich mich, als ich ins Publikum schaute.

Eure Musik enthält unkonventionelle Instrumente, mit denen ihr großartige Musik kreiert. Wie gestaltet sich euer Schaffensprozess und welche Inspirationen fließen in euren einzigartigen Sound ein?

Brad: Oh vielen Dank! Ich hoffe, dass die Zuhörer das auf diese Art wahrnehmen. Ich möchte ihnen etwas anbieten, das sie vorher noch nicht gehört haben.
Ich denke, dass vieles davon aus der Zeit kommt bzw. den vielen Jahren seit unserer Kindheit, in denen Andrew und ich zusammen Musik gemacht haben. Wir haben vieles entdeckt und wir lernten, unseren Prozess herunterzufahren, aus Improvisation eine Art Kernidee herauszufiltern, die funktioniert. Wir haben viel improvisiert und wenn sich dann ein Song oder eine Idee in ihrer Einfachheit andeutete, dann verfolgten wir diese Richtung. Bei Sarah geht es immer darum, ihren Platz zu finden, der ihr angenehm ist. Die Harfe ist kein einfaches Instrument aus Sicht des Komponierens. Es gibt keinen Plan dafür, wie man eine Harfe in einer Band mit Schlagzeug und Leadguitarre, Akustikgitarre oder gar Elektrosound unterbringt. Es ist jedes Mal aufregend zu sehen, auf welche Art Sarah ihren Platz im Song findet und damit glücklich ist.
Ich versuche die Songs einfach zu halten. Ich bin kein Perfektionist und ich bin auch niemand, der sich auf die Details konzentriert. Ich mag den Gedanken, dass Songs weiterentwickelt werden können, wenn man das möchte. Man kann sie auf eine bestimmte Art und Weise arrangieren, gleichzeitig können sie mit einer Akustikgitarre in Oklahoma an einem Lagerfeuer gespielt werden. Ich möchte Songs schreiben, die einfach zu interpretieren sind, die aber auch, abhängig von der Tiefe, die man haben möchte, immer spezifischer und prägnanter werden können.

Woran arbeitest du zuerst, an der Musik oder am Text?

Brad: Es war für gewöhnlich erst die Musik und dann der Text, aber jetzt suche ich nach dem Moment, in dem sie zusammen existieren. Ich kann mich nicht für eine Melodie begeistern, wenn es keine begleitenden, passenden Textfragmente gibt. Manchmal reichen schon zwei Worte, die sich mit der Musik vereinen. Es muss also von beidem etwas vorhanden sein. Wenn ich dann einen Musikausschnitt und einen passenden Textbaustein habe, kann das Ganze wachsen. Dann konzentriere ich mich überwiegend auf das Texten.

Wie ist z.B. „Beggar in the morning” entstanden, der einer meiner aktuellen Lieblingssongs von euch ist?

Brad: Sorry, dass wir ihn heute Abend nicht gespielt haben. Wir performten ihn am Nachmittag im Record Store Dodo Beach. Das hat Spaß gemacht. „Beggar in the morning”… Lass mich kurz überlegen. Ja, ich erinnere mich, wann ich den Song geschrieben habe. Es war am Ende einer Tour mit The Slip. Ich schrieb ihn im Tourbus 2006. Ich hatte die Idee für die Melodie und den Akkord schon seit einem Jahr im Kopf. Wenn so etwas nach drei Monaten immer noch im Kopf ist, denke ich: „Aha, es ist immer noch da.” Nach sechs Monaten, sage ich mir: „Okay, es ist immer noch da und es ist gut.” Für gewöhnlich beschließe ich nach sechs bis zwölf Monaten, in denen ich ein und dieselbe Idee herum getragen habe, mich hinzusetzen und den Song zu Ende zu bringen.
Der Text für „Beggar in the morning” fiel mir ein, nachdem ich nach Montréal gezogen war. Ich fühlte mich dort wie ein Voyeur. Zum ersten Mal fühlte ich mich wie ein Fremder in einer Stadt und dieses Gefühl von Anonymität brachte mir eine merkwürdige Selbstsicherheit. Niemand kannte mich dort und ich konnte mich frei bewegen, konnte Leute kennenlernen oder es sein lassen. Ich war frei von allen Verpflichtungen, als ich nach Montréal ging. Dieser Song entwickelte sich wirklich aus dem Gefühl heraus, von einer Gesellschaft ausgeschlossen zu sein, frei zu sein. Auch wenn bald darauf die Verzweiflung folgt. In dem Song ist alles miteinander vermischt.

Vielen Dank Brad für diesen Einblick!
Die Tour der Barr Brothers geht weiter. Es folgen bis Anfang Mai 2015 Konzerte in der Schweiz, Italien, Frankreich, England und Irland. Weitere Infos zu den Tourdaten gibt es auf der Website der Band: thebarrbrothers.com.