Wenn man im Sommer um die Mittagszeit über das Gelände schlendert, auf dem sich die sechs Bühnen des Festivals befinden, dann sind dort viele Leute unterwegs. Die Geschäftsleute machen ihre Mittagspause und tanken ein wenig Sonne. Die Touristen schauen sich das Quartier des Spectacles an. Vielleicht würden sie bis zum Abend bleiben oder wiederkommen, wenn ab 17 Uhr die ersten Bands im Rahmen der FrancoFolies spielen. Mich führte mein Weg an diesem Tag um die Mittagszeit zum ersten Mal in die dritte Etage des Astral, in dem sich das Archiv des Jazz Fest befindet. Das Jazz Fest findet wenige Tage nach den FrancoFolies statt und bietet ein internationales Musikprogramm. Durch die großzügige Fensterfront des Gebäudes hat man von der dritten Etage einen beeindruckenden Blick auf den umliegenden Platz. Durch die Fenster wirken die zahlreichen Menschen, die sich auf dem Platz tummeln wie Miniaturfiguren. Ab und an dringt bereits Musik vom Soundcheck nach oben. In dieser Atmosphäre traf ich Jérôme Minière. Mit seinem neuen Album UNE ÎLE war er am Tag zuvor im Club Soda aufgetreten und ich fragte ihn gleich darüber aus. Ich nutze auch die Gelegenheit und stellte ihm Fragen, zu denen mich seine Lieder von seinem aktuellen Album inspiriert haben, was ihn das eine oder andere Mal zum Schmunzeln brachte.

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© J. Dummer

Vergangenes Jahr bist du im Rahmen der FrancoFolies de Montréal im Club Soda aufgetreten. Mit einem Gitarristen zusammen hast du einige deiner neuen Songs gespielt, die zu dem Zeitpunkt noch nicht aufgenommen waren. In diesem Jahr ist das neue Album mit 14 Songs auf dem Markt und du bist erneut im Club Soda aufgetreten, dieses Mal mit deiner Band, die du liebevoll „minièr’sche Ressourcen“ nennst. Wie war der Auftritt?

Jérôme: Ich war sehr zufrieden. Das erste Mal im Club Soda nach dem Erscheinen des Albums aufzutreten kann etwas stressen, aber es hat alles gut geklappt. Vor allem, weil wir das Konzert nicht als Premiere erlebt haben. Wir haben ja bereits zu fünft in dieser Form auf der Bühne gespielt, als wir im Vorfeld der Aufnahmen ein Minikonzert im Mai 2014 in der Usine C in Montréal gegeben haben.

Inwieweit hat dieses Minikonzert, das du eben angesprochen hast, deine Songs beeinflusst?

Jérôme: Es hat sich ergeben, dass das aktuelle Album nicht in derselben Art und Weise entstanden ist wie meine vorherigen. Es kommt darauf an, wie man sie erzählt, aber ich würde sagen, es sind so um die zehn Alben. Im Laufe der Jahre wurde mir klar, dass ich sie auf unbewusste Art und Weise immer nach dem gleichen Schema aufgenommen habe. Für UNE ÎLE wollte ich mit der Routine brechen. Weil ich die elektronische Musik am Computer produziere, kann ich mich für gewöhnlich mehrere Monate zurückziehen nur mit einer Idee für einen Song im Kopf und nach etwa einem halben Jahr steht das Album. In diesem Arbeitsprozess bin ich viel allein, manchmal lade ich Musiker ein, aber eher zu einem späteren Zeitpunkt und ich habe über alles die Kontrolle. Dieses Mal habe ich es umgekehrt gemacht. Im Februar 2014 nahm ich einige Demos auf. Ich vereinte alles, was ich hatte, um zu sehen, ob daraus ein Album entstehen könnte. In etwa hatte ich zwölf Songs parat. Anstelle dass ich mich dem gewöhnlichen Prozess zuwendete und an den Demos eine Zeit lang bastelte, nahm ich sie innerhalb von zwei Wochen auf, ohne weitere Elemente hinzuzufügen und ohne großartig darüber nachzudenken. Ich betrachtete sie als Arbeitsdokumente für das Minikonzert.
Während des Minikonzerts sind die Songs so zu fünft entstanden. Das war im Mai. Im August haben wir die Songs dann innerhalb von drei Tagen alle gemeinsam in einem großen Studio aufgenommen. Auch das hatte ich zuvor noch nicht gemacht. Ich habe losgelassen und den Dingen ihren Lauf gelassen. Für mich war das ungewöhnlich, denn normalerweise gebe ich die Kontrolle nicht ab, aber es war eine schöne Erfahrung, mir selbst und meinen Musikern zu vertrauen.
In der darauffolgenden Zeit hatte ich andere Verpflichtungen. Dennoch arbeitete ich im Herbst weiter am Album. Ich habe die Songs montiert, elektronische Melodien hinzugefügt usw. Aber ich muss zugeben, dass ich nach einigen Monaten nicht zufrieden war. Ich hatte das Gefühl, dass etwas von dem Minikonzert und dem Beginn des Projekts verloren gegangen war. Trotz meiner anderen Projekte habe ich mir schließlich zwei Wochen am Stück Zeit genommen, um das Album zu vollenden. Während diesen zwei Wochen habe ich vor allem einzelne Elemente entfernt, die ich zuvor hinzugefügt hatte. Auf die Art habe ich versucht, das Gleichgewicht wieder herzustellen, das wir gemeinsam im Studio gefunden hatten. Als die zwei Wochen rum waren, hatte ich das Gefühl vom Beginn wiederentdeckt und meine Mission war erfüllt.

Dein Album wurde dann veröffentlicht. In den Texten geht es oft um das Thema Zeit und die aktuelle Epoche, in der wir leben. Das erste Lied ist eine musikalische Adaptation eines Gedichts von Fernando Pessoa: „Je ne suis pas stressé.“ Sich heutzutage nicht stressen zu lassen ist beinah ein Luxus geworden. Welche Strategien hast du, um damit umzugehen?

Jérôme: Ich bin jemand der eher unruhig und gestresst ist. Das liegt in meiner Natur. Deshalb rede ich darüber. In meiner Arbeit versuche ich diese Ambiguität, dieses Gefühl zu kennen und es hinter sich lassen zu wollen, zu verarbeiten. Jeder hat da sicherlich seine eigene Strategie. Ich versuche das seit einigen Jahren mithilfe von Meditation zu bewältigen. Sie führt zu einer Art gewollter Natürlichkeit.

In „Postmoderne“ sprichst du von der Vielzahl an Songs, die es auf dem Markt gibt und die die Leute herunterladen, ohne die Zeit zu haben, sie zu hören. Was bedeutet das für den Musiker? Öffnet das neue Türen oder stürzt es ihn in eine Krise?

Jérôme: Ich denke, das ist wirklich wie ein zweischneidiges Schwert. Es gibt da natürlich den Aspekt der Öffnung; die Möglichkeiten der Entdeckungen sind wundervoll und gleichzeitig unglaublich. Heutzutage hat so gut wie jeder Zugang zu Musik von überall auf der Welt mit nur einem Klick. Das ist wunderbar. Aber das umfassende Angebot wirkt wie ein Dschungel und es liegt an jedem selbst, wie er mit der unglaublichen Masse an Informationen umgeht.
Das ist aber nicht nur im Bereich der Musik so, sondern in allen künstlerischen Bereichen. Seit einigen Jahren werden wir mit Informationen überschüttet. Die Art und Weise wie ich z.B. Musik höre, hat sich in den letzten Jahren verändert und das tut es, glaube ich, immer noch. Ich habe früher ein Album vom ersten bis zum letzten Song gehört, aber seit rund fünf Jahren kaufe ich aus den unterschiedlichsten Gründen keine CD’s mehr. Dafür mache ich mir immer öfter Songlisten und ich versuche mir viele Sachen anzuhören. Ich betrachte das als Art Rendezvous mit einem Lied. Wenn ich mich mit einem Lied gut verstehe, dann verabrede ich mich erneut mit ihm und wenn das immer noch gut läuft, dann verabrede ich mich mit dem Album. Wenn auch das gut läuft, dann wende ich mich dem Künstler und seinem gesamten Werk zu.

Ich mag deine Verabredungen mit einem Song, einem Album, einem Musiker. Das erinnert mich an dein Lied über die Langeweile, die du als Person beschreibst, die sich ungefragt in den Wohnungen der Leute niederlässt. Ein weiterer Song führt mich zu folgender Frage: Wenn jetzt jemand auf Stopp drücken würde und die Zeit anhält, was würdest du tun?

Jérôme: [lacht] Das ist eine interessante Frage. Ich denke, ich wäre erst einmal sehr überrascht und ich würde lachen. Die Zeit anhalten zu können, ist ein sehr verblüffendes Konzept.

Im Flugzeug kann man in gewisser Art ja zumindest in der Zeit vorwärts oder rückwärts reisen

Jérôme: Das stimmt. Ein wahrer Stopp wäre wohl eher der aus der Science-Fiction, wo die Musik anhält und alles in der Luft hängt. Der erste Gedanke, der mir kommt, wenn ich dabei an einen Science-Fiction-Film denke, ist eine Reihe von Dummheiten zu machen, weil sie ja niemand bemerken würde.
Als ich an dem Song schrieb, dachte ich eher an eine existentielle Pause, d.h. eine Unterbrechung der alltäglichen Dinge z.B. auf der Arbeit. Vielleicht sind wir in der Lage, dies jeder für sich selbst zu tun. Ich denke da an den Sonntag. Ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist, aber in Nordamerika haben die Geschäfte sonntags geöffnet.
Als ich ein Kind war, langweilte ich mich oft sonntags, was nicht immer eine schöne Erfahrung war. Aber letzten Endes denke ich daran, wenn ich einmal die Woche den Stoppschalter betätige. In Nordamerika spürt man diese Langeweile weniger. Auch wenn viele Leute sonntags frei haben und nichts tun, hat man hier nicht wirklich das Gefühl, dass alles anhält. Es gibt letztlich verschiedene Möglichkeiten, den Lauf der Dinge zu unterbrechen, ob nun im Bereich der Science-Fiction oder im wahren Leben am Sonntag, auch wenn der zuweilen langweilig sein kann.

Als ich mir das Booklet deines Albums angeschaut habe, sind mir die Bilder darin aufgefallen. Wie sind sie entstanden?

Jérôme: Während des Minikonzerts. Das war wirklich ein interessantes Konzept. Wir hatten kein großes Soundsystem. Wir spielten überwiegend mit kleinen, batteriebetriebenen Verstärkern. Die Beleuchtung und das Bühnenbild stammten von Marie-Pierre Normand. Sie verwendete einen Overheadprojektor, den man aus Schulzeiten kennt. Sie erzeugte mit Gegenständen und Folien alle Bilder, während wir die Songs spielten. Das wollte ich behalten und habe es in das Booklet überführt. Auch das Cover ist damals entstanden und zeigt mich im Rahmen des Lichtfelds des Projektors.

Mit Referenz auf den Titel deines Albums frage ich dich, welche drei Dinge du auf eine verlassene Insel mitnehmen würdest.

Jérôme: Ah, die berühmte Frage. Ich glaube, ich würde mitnehmen… Warte kurz, reden wir von Menschen oder Gegenständen? Hm. Welche Dinge ich mitnehmen würde, wenn ich wirklich allein wäre? Das wirft einige Fragen auf. Gibt es dort zu essen und zu trinken?

Ja.

Jérôme: Okay. Ich würde also folgende Dinge mitnehmen, die mir am Herzen liegen: eine Gitarre, ein Notizbuch und einen Stift.

Du machst auf der Insel also weiterhin Musik und hältst sie sogar für die fest, die nach dir auf der Insel stranden. Nicht schlecht. Deine Musikkarriere begann 1996.

Jérôme: Im nächsten Jahr ist das 20 Jahre her. Das ist mir vor rund zwei Monaten klar geworden. Im nächsten Jahr werde ich irgendwas machen, um das zu feiern.

Dein Album PETITE COSMONAUTE erschien 2002 auch bei Le Pop in Deutschland. Wird es eine Fortsetzung geben?

Jérôme: PETITE COSMONAUTE kam dort sogar auf Vinyl heraus. Ich war auch schon des Öfteren mit einem Song auf ihren Kompilationen. Manchmal übernahmen sie den Vertrieb für meine Alben. Sie haben UNE ÎLE erhalten und alles ist noch offen. Sie werden bald ein Pop Retroalbum herausbringen und darauf wird auch eines meiner Lieder zu finden sein. Ich kenne Le Pop schon seit 2001 und es sind gute Freunde geworden. Dank ihnen war ich auch schon drei oder vier Mal in Deutschland auf Tour.

Als du dein Album herausgebracht hast, gab es auf deiner Website ein Foto mit zwei Kassetten, auf denen UNE ÎLE stand. Ich habe vor Kurzem meinen alten Walkman und alte Kassetten wiederentdeckt. Gerne würde ich mir dein Album auf Kassette anhören, wenn du noch eine übrig hast.

Jérôme: Ich kann dir eine aufnehmen. Ich habe das Album anlässlich des Konzerts zur Veröffentlichung auf zwei Kassetten überspielt. Wir haben sie an diesem Abend verlost. Wenn du wirklich interessiert bist, kann ich Kassette Nummer 3 von UNE ÎLE aufnehmen und sie dir dann nach Deutschland schicken. Ich mache das aber wirklich auf die klassische Art und Weise, in der man die CD einlegt und die Kassette und die Musik so überspielt.

Während ich es kaum erwarten kann, das Album von Jérôme Minière auf meinem alten Walkman zu hören, während ich durch die Straßen Berlins schlendere, bleibt mir die aktuelle Variante in Form seines Albums, das bereits in meinem Koffer gelandet ist und das ich nur empfehlen kann.