© J. Dummer

Am 8. August ging es per Mitfahrgelegenheit quasi in der Rushhour in Montréal los. Unser Ziel lag rund 250 Kilometer östlich der Metropole, wo an diesem Donnerstag eine weitere Ausgabe des Colline-Festivals begann, das Hubert Lavallée 2021, also mitten in der Corona-Pandemie, gegründet hat. Angelockt hatte mich nicht nur das Konzept: ein entspanntes Festival mitten in der Natur, unter freiem Himmel und der Chance, die Perseiden zu sehen, sondern auch das Line-up. Der erste Tag bot Auftritte von Émile Bilodeau und Shaina Hayes sowie Patrick Watson und Milk & Bone.

Lac-Mégantic ist eine Kleinstadt mit rund 5500 Bewohnern in der Estrie. Sie befindet sich am Mégantic, der mit einer Oberfläche von 27,2 km² zu den größeren Seen Québecs zählt. Von dort kommt Hubert Lavallée, und dort ereignete sich am 6. Juli 2013 auch eine Tragödie, die es weltweit in die Medien geschafft hatte, als ein führerloser, mit Rohöl beladener Zug auf den Ort zugerast und schließlich im Stadtzentrum entgleist und explodiert ist. 47 Menschen kamen dabei ums Leben. Danach rückten die Anwohner und Unterstützer zusammen und helfen einander bis heute, wie sich im Laufe des Festivals zeigen sollte. Auch Hubert Lavallées Vater wollte sich einbringen und kaufte eine verlassene Kirche, in der er mit seinem Sohn Konzerte organisierte. Dann kam die Pandemie und die Location musste geschlossen bleiben. Um die Kosten trotzdem decken zu können, setzten sie schnell ihre Idee von einem Konzert unter freiem Himmel in der Natur um. „Rallumer les étoiles“ wurde dank Hubert Lavallées Kontakte zum Fernsehen letztlich auch auf Télé-Québec gezeigt und neben Lac-Mégantic in den Städten Béthanie und Victoriaville produziert. Mit einem positiven Gefühl über das Geschaffte starteten sie im Jahr darauf mit Colline. Im dritten Jahr vielen die Beschränkungen weg, was sich positiv auf die Besucherzahlen auswirkte.

Wir schafften es nicht pünktlich zum Start der vierten Ausgabe. Bei unserer Ankunft in Lac-Mégantic war es bereits dunkel. Als ich die Autotür öffnete, trug ein kühler Wind den Gesang von Patrick Watson zu mir. Ich folgte ihm zum Hauptplatz des Festivals und zur Hauptbühne, vor der Menschen auf bereitgestellten Liegestühlen oder mitgebrachten Klappstühlen verzaubert dem Konzert lauschten. An den Seiten und im hinteren Bereich standen die Leute. Ich fand keinen Weg nach Vorne, daher lauschte ich seinen Songs wie „Sweet melody“, „Places you will go“ und „Here comes the river“ von weiter hinten, und versuchte einzelne Gespräche um mich herum auszublenden.

Patrick Watson genoss seinen Auftritt in diesem Rahmen sehr. Er amüsierte sich auch vor der Bühne, nahm sogar kurz in einem der Liegestühle Platz und spielte gegen 21:40 Uhr als Zugabe „Adventures in your own backyard“.

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Weiter ging es kurz darauf auf einer zweiten, kleineren Bühne. Der Weg dorthin bot Möglichkeiten, sich zu stärken, die Wasserflasche aufzufüllen oder am Lagerfeuer zu verweilen und in den Sternenhimmel zu schauen. Vielleicht war es deshalb vor der Bühne so überschaubar, als Milk & Bone ihren Auftritt mit „Worst year of my life“ starteten. Danach kamen allerdings immer mehr Menschen und Fans dazu.

Milk & Bone brachten 2015 ihr erstes Album, LITTLE MOURNING, heraus, es folgten 2018 DECEPTION BAY und 2022 CHRYSALISM. An diesem Abend war von allen Alben etwas dabei: etwa „20MGs“, „A little better everytime“ und „Piggyback“ von CHRYSALISM und „Faded“, „BBBLUE“ und „Daydream“ von DECEPTION BAY. Sie spielten auch ältere Songs wie „Coconut water“, „Pressure“ und „New York“ – ihr allererster Song, der erschreckenderweise schon zehn Jahre alt ist. Es war ein unterhaltsamer und insgesamt sehr tanzbarer Auftritt, der zwischen Herzschmerz und buntem Konfetti wechselte. Es machte Spaß, Laurence Lafond-Beaulne und Camille Poliquin, die in der Vergangenheit auch schon durch Europa getourt sind, zu beobachten. Zum Abschied kündigten sie neues Material an, und performten in der Zugabe noch „Borders“. Als die Menge auseinanderging, merkte ich, dass es sich weiter abgekühlt hatte, und dass ich nach der langen Autofahrt doch relativ geschafft war. Daher entschied ich mich gegen das Verweilen am Lagerfeuer und für den Weg in meine Unterkunft, die etwa 20 Minuten zu Fuß in der Nähe der Bahnschienen lag.

In der Nacht fing es an zu regnen, und hörte auch erst einmal nicht mehr auf. Der Blick nach draußen versprach nichts Gutes. Es schien relativ unwahrscheinlich, dass das Programm am zweiten Festivaltag wie geplant stattfinden würde. Kurz darauf erfuhr ich über die Festivalapp, dass das Team intensiv an Lösungen arbeite und diese zeitnah verkünden würde. Als es sich etwas aufgehellt und der Regen aufgehört hatte, entschied ich mich für einen Erkundungsspaziergang. Ich überquerte die Gleise, passierte eine große digitale Anzeige, die das Festival bewarb, und fand den Strandabschnitt, den Milk & Bone während ihres Auftritts erwähnt hatten. An diesem verregneten Tag war er allerdings leer. Als ich wieder in meiner Unterkunft ankam, erfuhr ich, dass vier der fünf geplanten Konzerte verlegt werden konnten. Der Höhepunkt des Abends – das Konzert von Ariane Moffatt – fand nun, dank des „Mégantic-Faktors“, der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner, in der Sainte-Agnés-Kirche statt. Ariane Moffatt passte ihr Set an die neue Umgebung an und es kamen, zur Freude der Organisatoren, mehr Leute als gedacht.

Ein Konzert in der Kirche hatte ich zuletzt von Chloé Sainte-Marie in Grande-Vallée auf dem Festival en chanson de Petite-Vallée gesehen, und davor von Louis-Jean Cormier in Montréal während des Coup de cœur francophone 2013. Das letzte Mal, dass ich Ariane Moffatt live gesehen habe, war 2017 auf den FrancoFolies de Montréal, und fünf Jahre davor ebenfalls auf den FrancoFolies, es war also schon ziemlich lange her. Daher war meine Vorfreude auf diesen Abend, für den sie einiges von ihrem Material aus den letzten 25 Jahren ihrer Karriere genommen und mit dem Streichquartett Les Mommies on the run überarbeitet hat, groß.

Kurz vor halb acht wartete vor der Kirche bereits eine Traube von Menschen auf den Einlass, als es wieder zu regnen anfing. Dann gingen die Türen auf. Ich fand einen Platz in der Mitte links, entdeckte ein Klavier und vier Musikerinnen, die bereits ihre Plätze eingenommen hatten. Bevor auch Ariane Moffatt dazukam, ließen die Organisatoren ihren ereignisreichen Tag Revue passieren und dankten allen, die diesen Abend ermöglicht haben.

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Ariane Moffatt startete ihr Konzert mit „Réverbère“, es folgten u.a. „Debout“, „La fille de l’iceberg“ und „Poussière d’ange“. Als sie „Pointe de mire“ auf der Gitarre spielte, nahm sie sich einen längeren Moment und wandte sich an ihr Publikum. Es wirkte, als gefalle ihr dieser unvorhergesehene Abend mindestens genauso gut wie uns. Deswegen war er damit auch nicht zu Ende. Es folgten noch „Walls of the world“ und „Hôtel Amour“, und als Zugabe, entsprechend der Magie des Abends, „Nuit magique“ von Catherine Lara sowie eine sehr belebende und mitreißende Version von „Miami“, die tatsächlich das Publikum von den Bänken riss und mich mit einem guten Gefühl in die stürmische Nacht entließ. Es war ein schöner und abwechslungsreicher Auftritt, der mich in Zukunft wohl wieder öfter eines der Moffatt-Alben aus meinem Musikregal nehmen lassen wird.

Am letzten Festivaltag zeigte sich die Stadt von seiner sonnigen Seite. Das Programm konnte wie geplant stattfinden. Los ging es im Festivaldorf – eine Neuheit in dieser Ausgabe, dessen Besuch kostenlos war. Auf dem Weg dorthin lief ich an einem Park vorbei, in dem Menschen Yoga zu Livemusik vom Klavier machten. Kurz darauf wurde ich gebeten, an einer Umfrage teilzunehmen. Deren Ergebnisse lagen Hubert Lavallée nach dem Festival vor. Ich war wie 60 % der Besucherinnen und Besucher extra wegen des Festivals angereist und wie den meisten hat es mir gefallen. Ein gutes Feedback, das Colline bekannter machen und vielleicht gerade deswegen auch vor weitere Herausforderungen stellen wird. Aber zurück zum letzten Tag bei nahezu perfektem Sommerwetter. Im überschaubaren Festivaldorf mit angrenzendem Campingplatz für extra Angereiste fanden die Konzerte auf dem Dach eines bunt bemalten sogenannten Mixbus statt. Den kletterten als erstes Jeanne Côté und ihre Band hinauf, während es sich Menschen davor vorzugsweise im Schatten auf Stühlen bequem machten und Kinder eifrig die vorhandene Kletterwand ausprobierten. Ich hatte Jeanne Côté bereits auf dem Festival en chanson in Petite-Vallée gesehen. Ihr Song „Y peut mouiller“ war dort quasi DER Festivalsong. In Lac-Mégantic spielte sie ihn auch, auch wenn wir alle hofften, dass ihn das Wetter nicht wörtlich nahm. Weitere Songs waren zum Beispiel „Vents d’ouest“, „Ouragans“ und „La vague“, die sie mit der Geschichte ihrer Entstehung einleitete, und dazu auch ganz neue, noch unveröffentlichte Songs von ihrem zweiten Album.

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Bis zum nächsten Auftritt hatte ich Zeit für ein Mittagessen im Café Bistro La Brûlerie und einen Besuch der Gedenkstätte, die an den 6. Juli 2013 erinnert. Auf dem Weg dorthin fuhr ein weiterer, ewig langer Güterzug durch die Stadt.

Zurück im Festivaldorf sagte gegen 16:30 Uhr Hubert Lavallée dann Valence an. Der spielte mit seiner Band vorwiegend Songs von seinem aktuellen Album LA NUIT S’ACHÈVE.

Die letzten Konzerte fanden wieder an dem Ort statt, an dem für mich vor zwei Tagen alles angefangen hat. Nur war es dieses Mal noch hell, als ich auf den einladenden Einlass zuging und auf denselben freiwilligen Helfer traf, der mich am ersten Abend in Empfang genommen hat. Vor der Hauptbühne warteten die Leute sehnsüchtig auf Robert Charlebois, dem die Québecer Musikszene zahlreiche Lieder und besondere Momente der Musikgeschichte verdankt. Sein Auftritt sei etwas Besonderes, denn eigentlich spiele er vor einem viel größeren Publikum, erfuhr ich von Hubert Lavallée nach dem Festival. Vielleicht hatte es etwas mit dem „Mégantic-Faktor“ zu tun, vielleicht auch nicht. So oder so gab er alles und sorgte für einen wunderbar unterhaltsamen Auftritt mit Songs, die zusammen mit Luc Plamondon oder Réjean Ducharme entstanden sind und fast alle aus dem letzten Jahrhundert stammen: „Les ailes d’un ange“ – 1969, „Mon pays“ – 1971, „Lindberg“ – 1968, „Ordinaire“ – 1969.

Die Stimmung war ausgelassen. Der Sänger zeigte sich als Rocker, der die Saiten seiner Gitarre auch mal mit der Zunge zupfte, und scheute auch keinen Vergleich mit aktuellen Stars wie Taylor Swift. Das Publikum zeigte sich textsicher und tanzlustig, und rief den einen oder anderen Songwunsch zu. Ganz am Ende spielte er noch „Je reviendrai à Montréal“ und stimmte einen weiteren Song an, den ich immer weniger hörte, da ich bereits zur zweiten Bühne unterwegs war, wo es quasi direkt mit dem letzten Konzert des Festivals weiterging.

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Nach Robert Charlebois schickte sich eine jüngere Generation an, auf Französisch zu rocken. Hinter LE ROY, LA ROSE ET LE LOU(P) stecken die Solokünstlerinnen Ariane Roy und Lou-Adriane Cassidy und der Solokünstler Thierry Larose. Seit 2022 stehen sie auch gemeinsam auf der Bühne, haben zu ihrer Show eine eigene Website und einen eigenen Titelsong, den ich aber erst ganz zum Schluss kennenlernte. Die an diesem Abend performten Songs – „Oui le serpent nous guette“, „La pluie ne tombe jamais sur toi“ und „Plein prix“ sowie die eingängigen und aussagekräftigen „Ça va ça va“ und „Fille à porter“ in der Zugabe – gibt es seit Kurzem auch auf einem Livealbum zum Nachhören.

Mit ihrer Show wollten die drei etwas schaffen, das größer ist als sie selbst, einen Moment, in dem Menschen zusammenkommen, um Musik aus Québec zu erleben, und so verabschiedete sich Thierry Larose auch mit einem „Vive la musique québécoise!“, bevor alle zusammen noch den Titelsong zum Besten gaben. Es war ein gelungener Abschluss, und trotz des schwierigen zweiten Tags leuchteten am Ende, als die letzte Note verklang, nicht nur die Sterne am Himmel, sondern auch viele Augen.

Das Lob und den Dank der Besuchenden nahm Hubert Lavallée am Ausgang gleich direkt entgegen. Und davon bekam er reichlich. Das dürfte ihn und sein Team bestärken für die kommenden Ausgaben, die sicherlich einige Herausforderungen mit sich bringen werden angesichts des Erfolgs, der wachsenden Bekanntheit, den eigenen Ansprüchen, möglicher Wetterkapriolen und steigender Kosten. Aber für den Moment überwogen die Zufriedenheit und die Freude über die 7000 Menschen, die die vierte Ausgabe angelockt hat. Im nächsten Jahr steht das fünfjährige Jubiläum an und ich bin gespannt auf das, was kommt und wünsche viel Erfolg!

Ich danke Hubert Lavallée, seinem Team und der Vertretung der Regierung von Québec, die meinen Besuch des Festivals unterstützt haben!