© J. Dummer

Drummondville liegt gut 100 Kilometer nordöstlich von Montréal. Es ist die Heimatstadt der Trois Accords, die seit ihrem Debütalbum GROS MAMMOUTH 2003 die Québecer Musiklandschaft mitprägen. Mit ihren teils absurden Liedtexten und mitreißenden Melodien begeistern sie Menschen aller Altersklassen. 2007 gründeten sie ihr eigenes Festival und nannten es Festival de la Poutine, weil Drummondville einer der Orte ist, die die Entstehung der Poutine für sich reklamieren. Ich habe das Festival seit Jahren auf dem Schirm, zur 17. Ausgabe wollte ich es endlich live miterleben.

Am Donnerstag, den 22. August, nahm ich vormittags in Montréal den Bus – die Verbindung bietet Orléans Express mehrmals am Tag – und hatte so noch etwas Zeit, um meine Tasche bei Bekannten von Bekannten abzustellen und die Stadt zu erkunden, bevor das Festival losging. Leider war es grau, verregnet und überraschend kalt. Vor diesem Hintergrund stachen die Pommesschilder, die mir den Weg zum Festival wiesen, besonders hervor. Dann erreichte ich den Ort des Geschehens der nächsten drei Tage: den Parkplatz der städtischen Eissporthalle benannt nach dem ehemaligen NHL-Star Marcel Dionne. Nach der Einlasskontrolle reihten sich erst einmal diverse Food Trucks aneinander. Sie alle hatten Poutine im Angebot, allerdings mit unterschiedlichen Toppings. Ich verschaffte mir erst einmal einen Überblick und ging die Angebotstafeln durch. Glücklicherweise gab es die Poutines in den Portionen mini, klein und groß. Meine erste Poutine holte ich mir dann bei Le canard échevelé. Eine kleine Portion mit gezupftem Schweinefleisch, karamelisierten knusprigen Zwiebeln und etwas Rotkraut. Super lecker. Gestärkt wartete ich auf das erste von insgesamt 18 Konzerten, die sich auf zwei Bühnen verteilten.

Gegen 18:30 Uhr war es endlich so weit, auch wenn das Publikum noch überschaubar war. Gaël Comtois, Moderator und Comedian, heizte den Leuten vor der Nebenbühne ein wenig ein, bevor er an Parazar übergab. Die Montréalerin mit algerischen Wurzeln rapt seit vier Jahren. 2023 brachte sie mit ELLE ÉTAIT UNE FOIS ihr erstes Album raus, 2024 folgte MONOLOVE. Auf der Scène Hydro-Québec performte sie u.a. „Bakhta“, „Medellin“, „Un peu souvent“, „EDM“, „Chacun pour soi“ und „Blabla“. Rap würde auf dieser Bühne das dominierende Genre sein mit den anschließenden Auftritten von Calamine und LLA, und mit Aswell und Sensei H am Festivalfreitag.

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Weiter ging es zunächst aber mit Le Couleur, die ich nach 2015 auf den Francos und 2016 auf dem Coup de cœur francophone erneut live sehen konnte. Es war ihr erster Auftritt in Drummondville, für den sie sich vorab mit Poutine versorgt haben – etwas, das bei Acts wie Besuchenden bei solch einem Festival einfach dazugehört. Während ihres Auftritts vor immer noch nicht allzu vielen Menschen spielten sie Songs wie „L’amour le jour“, „Désert“, „Autobahn“ und „Voyage amoureux“. Nach ihrem Auftritt führte der Weg zur Nebenbühne wieder vorbei an den Poutine-Trucks und dem Festivalspielplatz, einem Kletterturm und dem Merch-Stand. Ich erreichte sie rechtzeitig für Calamine.

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Anders als bei Parazar, die auf der Bühne von einem DJ begleitet wurde, standen bei der Rapperin Calamine auch eine Saxofonistin, ein Gitarrist und ein Keyboarder mit auf der Bühne, vor der sich inzwischen mehr Menschen versammelt hatten. Zuletzt ist von Calamine DECROISSANCE PERSONNELLE erschienen. 2021 wurde sie mit dem Prix Felix-Leclerc de la chanson ausgezeichnet, schaffte sie es auf den zweiten Platz bei den Francouvertes und räumte sie mit ihrem Debütalbum BOULETTE PROOF sowie mit dem Nachfolger LESBIENNE WOKE SUR L’AUTOTUNE in der Kategorie „Rap/Hip Hop-Album des Jahres“ auf der 16. und 17. Gala alternatif de la musique indépendante du Québec ab. Auf dem Festival de la Poutine performte sie u.a. „Jean-Talon“, „Gentrifornication“ und „La 34“. Dann hieß es wieder den Standort wechseln, denn das Programm ging Schlag auf Schlag.

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Als ich mich der Hauptbühne näherte, spielte Fanny Bloom bereits „On s’aimera“ von ihrem 2018 erschienenen Album LIQUEUR. Die Bühne teilte sie sich mit dem Schlagzeuger Philippe Bilodeau. Sie selbst wechselte zwischen Klavier und Gitarre. Weitere Songs kamen von ihrem aktuellen Album HOLISTIQUE wie „Méconnaissables“ und „C’est toujours comme ça, c’est magique“ und ihrem Solodebütalbum ARPENTIE GUERRIÈRE wie „La barque“. Danach wurde es ein wenig nostalgisch, als sie den ersten Song aus der Zeit mit ihrer ehemaligen Band La Patère Rose sang. Zu „PaceMaker“ war vor über 15 Jahren auch ihr erstes Musikvideo entstanden.
Zum Abschluss gab es noch ihren Hit „Piscine“ und ein Cover von „Te quitter“ des großen Daniel Bélanger, der auch noch seinen Auftritt auf dem Festival de la Poutine haben wird. Aber zurück zum ersten Festivaltag und zur Nebenbühne.

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An dem Ort, wo vor knapp dreieinhalb Stunden alles begonnen hat, stand nun mit LLA der Höhepunkt des ersten Tags bevor: Die Feier des zehnjährigen Jubiläums ihres Albums BLUE VOLVO. Das hat eine stattliche Anzahl von Menschen angelockt. LLA performten mit sichtlich viel Spaß und guter Laune „Hôtel Hell“, „Rien ne va plus“, ihren neuesten Song „Ce pas ce que tu penses“, „Blue Volvo“ und „14AM“, und in Andenken an Karim Ouellet den gemeinsam aufgenommenem Song „Automne“. Dazwischen gab es Lieder von Lary Kidd und Loud wie „Sac de sport“, „Oui monsieur“ und „On my life“. Den Abschluss machte gegen 22:15 Uhr „XOXO“. Dann ging das Bühnenlicht aus. Und wieder an, da sie mit „Candlewood suites“ noch einen letzten Song als Zugabe spielten.

Nach fünf von sechs Konzerten und einer leckeren Poutine schlenderte ich leicht durchgefroren durch halb Drummondville zu meiner Unterkunft und hoffte für den nächsten Tag auf besseres Wetter und mehr Publikum.

Der zweite Festivaltag wurde dann tatsächlich sommerlicher, mit so gut wie keinen Wolken am blauen Himmel und Sonnenbrandgefahr statt Fröstelattacken. Da das Festival erst um 17 Uhr seine Tore öffnete, entspannte ich im grünen Park und am rauschenden Fluss der Stadt, bis ich vom Festivalgelände den Soundcheck vernahm.

Zurück am Ort des Geschehens steuerte ich hungrig den Food Truck von La Baroule an und bestellte mir ein Mal Poutine La Montréal mit Smoked Meat, scharfer Mayo, süßem Senf, Frühlingszwiebeln und Gewürzgurken. Auch die war gut gewürzt und super lecker. Nach der Stärkung war ich bereit für einen Abend voller Musik, so wie viele weitere, da die Besucherzahl von gestern schon längst übertroffen war. Los ging es auf der Nebenbühne mit Rap von Sensei H aus Québec (Stadt).

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Sensei H nahm 2024 an den Francouvertes teil und belegte am Ende den zweiten Platz. 2018 brachte sie mit UTOPIE ihr erstes Album raus. Es folgten weitere Veröffentlichungen, von denen sie u.a. „5 sens“, „Focus“, „Dernière lune“, „Longtemps“ und „Hors du commun“ für diesen gechillten Auftritt ausgewählt hat.

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Im Anschluss daran bot Shaina Hayes auf der Hauptbühne einen komplett anderen Sound an. Nachdem ich sie auf dem Colline-Festival in Lac-Mégantic verpasst hatte, war ich froh sie in Drummondville zu sehen. Im Februar 2024 brachte die Singer-Songwriterin ihr Folk-Pop-Album KINDERGARTEN HEART heraus, von dem sie einige Songs wie „Heat wave“ und „Fun“ oder auch „Honey friend“ von ihrem Debütalbum spielte.

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Wieder einmal lief ich von der Haupt- zur Nebenbühne, wo richtig viele Leute auf den Auftritt von Aswell warteten. Ein paar Stunden zuvor hatte ich in einem Café das Lokalblatt Express durchgeblättert und ein Interview mit ihm entdeckt. Darin sagte er, dass er sich auf der Bühne viel bewege und den Kontakt zum Publikum suche. Beides stellte er gleich beim ersten Song unter Beweis. Seine Mischung aus Rap, Pop und Folk war sehr eingängig, wie in dem Song „Loyseau“, das sein Album BANLIEUE eröffnet, oder auch in „Sandy“ und „Foggy“. Aswell hatte sichtlich Spaß an seinem Auftritt und ließ es sich nicht nehmen, bei seinem Publikum kurz nachzufragen, woher die Poutine denn nun wirklich kommt. Das viele Hin und Her sorgte bei manchen Songs allerdings für etwas wenig Stimme, was aufgrund der guten Stimmung und des guten Wetters jedoch weniger schlimm war.
Nach Aswell freute ich mich, LE ROY, LA ROSE ET LE LOU(P) wieder zu sehen, nachdem sie in Lac-Mégantic für einen gelungen Abschluss des Colline-Festivals gesorgt hatten.

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Als ich mich der Hauptbühne näherte, standen sie schon auf der Bühne, und ich spürte sofort dieselbe mitreißende Atmosphäre wie in Lac-Mégantic. Ariane Roy, Thierry Larose und Lou-Adriane Cassidy rockten auch das Publikum von Drummondville, rissen es mit ihren eingängigen und energiegeladenen und dazwischen auch mal ruhigeren, gitarrenlastigeren Songs wie „L’île à vingt-cinq sous“, „Entre mes jambes“, „Kundah“, „Ça va ça va“, „Fille à porter“ und „Les amants de Pompéi“ mit. Es war abwechslungsreich, schön und beeindruckend zu sehen, was zehn Menschen auf die Bühne bringen können. Am Ende ließ Thierry Larose wieder die Québecer Musik hochleben, dann gab es noch den eigenen Titelsong. Ich war hin und weg, hastete nicht zum nächsten Auftritt auf der Nebenbühne, sondern ließ das Erlebte noch wirken und sicherte mir einen guten Platz für die Trois Accords.
Ich hatte sie 2016 während der Francos de Montréal im damaligen Métropolis live gesehen und im darauffolgenden Jahr, als sie mit Lydia Képinski, Pierre Kwenders und Dumas die Francos eröffnet haben. Sie an diesem Abend in ihrer Heimatstadt zu sehen, war etwas Besonderes und ich war gespannt, welche Songs sie aus ihrer zwanzigjährigen Karriere spielen würden.

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Sie spielten einen Kracher nach dem anderen: „Corinne“, „Les amoureux qui s’aiment“,„Tout nu sur la plage“, „Lucille“, „Internet“, „Dans mon corps“, „Le bureau du médecin“, „Bamboula“, „Les dauphins et les licornes“, „Je me touche dans le parc“, „Costume de bain“, „Caméra vidéo“. Es wurde gesungen, getanzt, gesprungen. Dazwischen bedankten sie sich wiederholt bei den vielen freiwilligen helfenden Händen und auch beim Wetter, das sich nach dem Regen am ersten Tag gebessert hatte. Kurz nach 22:30 Uhr war „Ouvre tes yeux, Simon!“ der letzte offizielle Song ihres Auftritts und des Abends. In der Zugabe folgten dann noch „J’aime ta grand-mère“ und „Pâté chinois“, bei dem die Lichter der Smartphones angingen und das Bühnenlicht aus. Beschwingt lief ich zum Ausgang und in eine Bar ganz in der Nähe, wo ich mich mit einer Bekannten traf. Sie wohnt außerhalb der Stadt. So konnte ich die bisher gesammelten Eindrücke am nächsten Tag in der Stille der Natur verarbeiten.

Am letzten Festivaltag knallte die Sonne auf das Gelände, das schon ab 15 Uhr geöffnet war und viele Familien anzog. Die Kinder tummelten sich auf dem Spielplatz und kletterten den Turm hoch. Es wurden zahlreiche Poutines verköstigt und zum Nachtisch Churros oder Eis. Auf den abgesperrten Bühnen lief noch der Soundcheck. Da mir die Schlangen an den Food Trucks etwas zu lang waren, besorgte ich mir erst einmal was Süßes.

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Gegen 18:30 Uhr griff Gaël Comtois auf der Nebenbühne wieder zum Mikro und kündigte Loïc Lafrance an. Wie Sensei H am Vortag, und Calamine davor, hat er an den Francouvertes teilgenommen und war 2024 hinter Sensei H Dritter geworden. Bevor der Singer-Songwriter auf die Bühne kam, spielte erst mal seine Band, u.a. auch Mundharmonika. Erst dann trat er in einer Weste und mit Cowboyhut als „le sherif“ dazu. Anders als an den beiden Abenden zuvor standen die Zeichen nicht auf Rap, sondern im Falle von Loïc Lafrance auf einen unterhaltsamen, buntgemischten, wilden Mix aus Grunge, Pop und Rock. In Songs übersetzt hieß das u.a. „Goffman et moi“, „Clarence (les cowboys dans les magazines)“ und „Salade de fruit“ von seinem autoproduzierten THÉÂTRE/VIOLENCE, „Le ciel est en feu“ von seinem Album LE MONDE DES ADULTES und auch neuen Songs wie „Dans mon sang“ und „2034 (le soleil tombe sur toi)“. Was für ein überraschender und guter Start in diesen letzten Abend des Festival de la Poutine.

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Um 20 Uhr ging es für mich dann mit Karkwa auf der Hauptbühne weiter. Zu ihrer Hochzeit Anfang der 2000er hatte ich sie verpasst. Dafür hatte ich diesen Sommer in kürzester Zeit gleich zwei Mal die Gelegenheit, sie live zu sehen. In Drummondville spielten sie ähnlich wie in Petite-Vallée mit „Parfaite à l’écran“, „Nouvelle vague“ und „Gravité“ Songs von ihrem Reunionalbum DANS LA SECONDE. Dazwischen gab es mit „Le pyromane“, „L’acouphène“ und „Moi-léger“ Songs von ihrem 2011 erschienenen LES CHEMINS DE VERRE. Zwischen diesen beiden Alben liegen zwölf Jahre. Seit zwei Jahren ist die wiedervereinte Band unterwegs, doch diese Zeit neigt sich langsam ihrem Ende, wie Louis-Jean Cormier betonte und dabei offen ließ, ob oder wie es weitergeht.
Bei „Oublie pas“ von LE VOLUME DU VENT, bei dem in Petite-Vallée überraschenderweise Marie-Pierre Arthur dazugekommen war, habe ich mich schließlich aufgrund des doch gewöhnungsbedürftigen Sounds nach hinten orientiert. Dort war der Sound angenehmer und die Leute standen auch weniger dicht. Es war der perfekte Moment, um meine Eindrücke vom Festival de la Poutine für Pop Poutine , einem Podcast von Dennis Kastrup und Eric Cohen, festzuhalten. Ich habe es in die zweite Folge geschafft.
Mit „Échapper au sort“ verabschiedete sich Karkwa vom Publikum und kam auch nicht noch mal zurück.

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Neben Karkwa waren auch Galaxie beim Festival en chanson von Petite-Vallée dabei. Sie gaben ihr Konzert auf der Bühne eines vollgepackten länglichen Saals, der in kürzester Zeit aufgeheizt war. In Drummondville spielten sie unter freiem Himmel. Los ging es mit einer etwa zehnminütigen Verspätung, weil François Lafontaine, eben noch mit Karkwa auf der Hauptbühne, schnell rübergesprintet kam, um als Keyboarder einzuspringen.
Vom ersten Lied an ging es rund. Es war krass laut, aber nicht unangenehm, wie ich es bei einigen anderen Auftritten erlebt hatte. Band und Publikum waren gut drauf, eine gute Voraussetzung für einen gelungen Auftritt. Es wurde zu „Anomie“, „Piste 1“, Dolbeau“ und weiteren getanzt. Ich sah viele lächelnde Gesichter, auch noch als es sich etwas leerte, da so manche·r zum letzten Auftritt von Daniel Bélanger aufbrach. Ich blieb bis zum Schluss bei Galaxie, die davon ungestört weiterhin eine gute Show lieferten. Eigentlich wäre es auch ein richtig guter Abschluss für mich gewesen, trotzdem lief ich ein letztes Mal von der Neben- zur Hauptbühne. Es dauerte nicht lang, da hörte ich schon Daniel Bélanger, wie er Songs wie „Imparfait“, „Te quitter“ und „Dans un spoutnik“ sang.

Meine Zeit in Drummondville neigte sich dem Ende. Auf dem Weg zum Busbahnhof überlegte ich, wie viele Poutines in den letzten drei Tagen wohl verspeist wurden. Ich kam über meine zwei nicht hinaus. Kurz vor Mitternacht ließ ich Drummondville im Bus hinter mir, im Gepäck viele schöne Momente, tolle Bilder und neue Entdeckungen. Im nächsten Jahr wird das Fesitval de la Poutine 18. Erste Acts für die Volljährigkeitsausgabe, die zwischen dem 7. und 9. August 2025 stattfindet, stehen bereits fest. Dabei sein werden u.a. Talk, Jay Scøtt und Billie du Page.

Ich danke Marie-Pier Letourneau für die Akkreditierung und der Vertretung der Regierung von Québec für die Unterstützung meines Besuchs des Festivals!