
© J. Dummer
Ich habe Chances das erste Mal 2018 auf dem Festival Aurores Montréal in Paris gesehen. Was hast du von diesem Auftritt noch in Erinnerung?
Chloé: Der Auftritt war super. Er war Teil einer überhaupt ganz wunderbaren ersten Reise nach Europa. Wir sind sechs Monate später zurückgekehrt und drei Wochen durch Frankreich, Italien und Belgien getourt. Das war großartig. Wir hatten gute Kontakte geknüpft und wollten im April 2020 eine weitere und letzte Tour mit unserem ersten Album machen. Wegen der Pandemie ging das aber nicht. Wir haben dann eine EP rausgebracht, sie einfach nur online gestellt, da die Pandemie anhielt. Wir waren in den letzten Jahren alle mit eigenen Projekten beschäftigt, haben aber Zeit gefunden, um gemeinsam an neuen Songs zu arbeiten. Wir stellen gerade unser nächstes Album fertig, das 2025 erscheinen soll. Während unseres Auftritts in Petite-Vallée haben wir die neuen Songs gespielt.
Wie fühlte es sich an, mit dem neuen Material auf der Bühne des Festival en chanson zu stehen?
Chloé: Unser Projekt war vorher stark von Elektro geprägt. Das brachte gewisse technische Anforderungen mit sich, einen engen technischen Rahmen. Wir waren auch zwei Jahre lang mit einer großen Zirkusshow unterwegs gewesen, was genial war, aber auch wieder mit viel Technik verbunden war. Dieses Mal wollten wir uns auf das konzentrieren, was Chances ausmacht, also die Themen, die zwei Gesangsstimmen und das Schlagzeug. Dadurch entsteht auf der Bühne Raum für Improvisationen und Überraschungen. Vorher waren Geneviève und ich, und unsere Stimmen, sehr aufeinander abgestimmt, Wir haben uns gegenseitig bis in unsere Bewegungen kopiert. Jetzt setzen wir unsere Stimmen anders ein, haben sie auch live aufgenommen. Wir waren zu dritt mit Robbie Kuster – ebenfalls ein genialer Drummer – im Studio. Und wir haben das Album mit Erika Angell realisiert. Sie ist selbst Sängerin – eine unglaubliche, experimentierfreudige Indie-Sängerin – mit schwedischen Wurzeln. Sie lebt in Montréal. Sie war lange mit Patrick Watson unterwegs. Ihre eigene Band heißt Thus Owls. Sie hat unsere Energie und unsere Stimmen gelenkt. Die Zusammenarbeit war echt toll.
Ich habe in der Québecer Musikszene immer einen regen Austausch wahrgenommen. Viele sind solo aber auch in verschiedenen Bands unterwegs. Ist das nach der Pandemie immer noch so oder hat sich das vielleicht geändert, weil viele sich umorientiert haben.
Chloé: Ich würde sagen, die Bereitschaft, sich auszutauschen gibt es noch. Sie ist auch notwendig geworden, denn unser Milieu ist sehr klein. Québec ist zwar groß, hat aber eine geringe Bevölkerung. Sie sind es, die uns hauptsächlich hören. Und sie können zwischen verschiedenen Musikstilen wählen. Die Musikindustrie hat sich in den letzten 15 Jahren sehr verändert. Ihre Struktur war in die Jahre gekommen, schließlich stand sie kurz vor dem Zusammenbruch. So langsam erholt sie sich wieder. Dass Menschen Soloprojekte haben und zusätzlich in Bands sind, ist gängig. Für manche ist das sehr ermüdend, weil es an ihren Kräften zehrt, gleichzeitig tut es gut, weil nicht alles auf den eigenen Schultern lastet. Bei nur einem Projekt liegen alle Erwartungen darauf. In meinem Fall empfinde ich es unglaublich bereichernd, zwei Projekte zu haben. Ich fühle mich so auch freier, weil etwas vielleicht nicht zu dem einen, aber dafür umso besser zu dem anderen Projekt passt. Dadurch habe ich in gewisser Weise einen größeren Spielraum.
Bei Chances singt ihr hauptsächlich auf Englisch, als Solokünstlerin singst du primär auf Französisch. War das eine bewusste Entscheidung, um die Projekte voneinander abzugrenzen?
Chloé: Es steckt zumindest eine Absicht dahinter, weil die Sprachen verschiedene Melodien und Musikalitäten mit sich bringen. Außerdem ist Geneviève, die aus Winnipeg kommt, frankofon und anglofon. Ich hätte nie ein englischsprachiges Soloprojekt gewagt. Ich verstehe zwar gut Englisch, es ist aber nicht meine Muttersprache. Für Chances schreiben wir zusammen die Lyrics, aber Geneviève ist diejenige, die die englischsprachige Poesie beherrscht. Alleine hätte ich das nicht gemacht. Deshalb singe ich solo auf Französisch. Hier und da gibt es auch mal einen Song auf Englisch, aber eigentlich singe ich in meiner Muttersprache.
Solo habe ich dich 2014 auf den FrancoFolioes de Montréal und im selben Jahr im verre bouteille während des Coup de cœur francophone gesehen. Von deinen Songs mag ich besonders „Café“ und „Je voudrais l’être“, die auf meinem Blog auch „Songs der Woche“ waren. Was kannst du von deinem Soloprojekt berichten?
Chloé: Ich habe 2021 ein Konzeptalbum veröffentlicht. Es verknüpft Theater und Musik und handelt von Trauer, sehr persönlicher Trauer. Es heißt LES EAUX CLAIRES. Ich bin sehr stolz darauf. Ich bin damit nicht getourt wie mit meinen anderen Alben, sondern habe es in Theatern vorgetragen. Vielleicht werde ich es wieder aufnehmen. Ich möchte aber auch an neuen Songs arbeiten.
Um auf das Festival und Petite-Vallée zurückzukommen: Was verbindet dich mit dem Ort?
Chloé: Ich war vor 18 Jahren das erste Mal hier. Es war ganz am Anfang meiner Karriere, ja sogar noch bevor ich anfing, eigene Lieder zu schreiben. Damals coverte ich Songs, weil ich dachte, selbst zu schreiben läge mir nicht, weshalb ich es gelassen habe. Ich hatte in Montréal einen Wettbewerb namens „Grand huit“ gewonnen. Es gab vier Gewinner aus Frankreich und vier aus Québec, die gemeinsam auf Tour gehen sollten, einen Monat durch Québec und einen Monat durch Frankreich. Es war ein menschliches und musikalisches Abenteuer. Wir haben in Petit-Vallée an unserem Auftritt gearbeitet. Alan, der Mann hinter dem Festival, hat mich im Grunde wieder zum Schreiben gebracht. In den letzten 18 Jahren war ich häufig in Petit-Vallée, solo oder mit anderen Projekten, und habe im Camp chanson meine Erfahrungen geteilt. Es ist inzwischen sehr familiär. Wenn wir herkommen, fühlen wir uns, als würden wir unsere Familie besuchen. Als ich das erste Mal hergekommen bin, war ich sehr jung, inzwischen habe ich meine Tochter dabei. Wenn ich auf der Bühne stehe, passen Freiwillige auf sie auf. Das Festival ist ein Ankerpunkt geworden.
Ich habe von einigen Festivals in Montréal berichtet, diesen Sommer besuche ich Festivals außerhalb der Metropole. In Petite-Vallée beeindruckt mich, wie gern alle mitsingen.
Chloé: Das ist hier schon etwas Besonderes. Das Festival gibt es schon sehr lange, es ist eine richtige Institution. Das Publikum ist es gewohnt, auf den Text und die Melodie zu achten. Es ist sehr aufmerksam.
Die Sommerfestivals in Québec insgesamt sind toll. Es ist einfach die schönste Jahreszeit. Wir sind dann viel unterwegs und sehr froh, weil es überall, ob in Charlevoix, in Chichoutimi bei La Noce oder woanders – es gibt sehr viele – so schön ist. Wir touren durch Québec und manchmal, wie diese Woche hier in Petite-Vallée, fühlt es sich auch ein bisschen wie Urlaub an.