2015 präsentierten The Barr Brothers ihr zweites Album SLEEPING OPERATOR und traten im Vorprogramm von Calexico auf. Nach ihrem damaligen Konzert in Berlin habe ich Brad Barr im Keller des Heimathafen Neuköllns getroffen. Er erzählte mir von den Anfängen der Band, gewährte einen Einblick in seinen Schaffensprozess und die Entstehung des Songs „Beggar in the morning“. Auf die Tour mit dem Album folgte eine längere Pause, in der die Brüder Barr Väter geworden sind. Nun sind sie mit einem neuen Album zurück, in dem sie Themen wie Familie und Freunde besingen. Mit QUEENS OF THE BREAKERS sind The Barr Brothers demnächst auf Tour, unter anderem begleiten sie The War On Drugs auf deren Europatour. Als Brad Barr vor einigen Wochen nach Europa kam, um das Album zu promoten, traf ich ihn in einem Café in der Nähe der S-Bahnstation Bundesplatz. In dem Café mit antikem und verschnörkeltem Charme fühlte man sich wie in einer Puppenstube, in der zum Tee geladen wurde. Bei Kaffee und Kuchen plauschten wir über das neue Album, dessen schwierigen Entstehungsprozess und über den Titel und den gleichnamigen Song.
Es war eins dieser Interviews, die einige Ablenkungen bereit hielt: Ein Stück Kuchen viel wie in Zeitlupe auf den Boden, dann machte es Klatsch und ein Klappfenster wurde durch einen Luftzug zugestoßen. Beides lenkte die Unterhaltung kurz auf das Geschehene, bevor wir wieder zur Musik zurückkehrten.

© J. Dummer

Willkommen zurück in Berlin Brad.

Brad: Als ich das letzte Mal hier war, fand gerade ein Festival statt. In der Stadt war viel los, viele Bands waren unterwegs. Dieses Mal fühlt es sich normaler an im Hinblick auf den Rhythmus und den Alltag.

Wie ist es denn in Montréal? Gibt es eine Zeit, in der Normalität herrscht?

Brad: Nicht wirklich. Den Sommer gibt es immer irgend etwas in Montréal, sei es ein Festival oder was anderes. Die einzige Zeit, in der ein Hauch Normalität herrscht, ist, wenn die Stadt unter knapp zwei Metern Schnee verschwindet. Dann zeigt sich das wahre Montréal mit seinen Anwohner, die einfach nur von A nach B kommen wollen. Ich war mal im Februar mit meiner damaligen Freundin in Berlin. Es war ähnlich wie in Montréal. Weil es so kalt war, konnte man nicht lange draußen unterwegs sein. Ein Freund hat uns dann in eine tolle kleine Bar geführt, in der Tango getanzt wurde. Es fällt mir gerade wieder ein.

Dieses Mal bist du gekommen, um euer neues Album zu promoten. Es folgt auf euer zweites Album SLEEPING OPERATOR, das ihr 2014 herausgebracht habt, und eure EP ALTA FALLS, die ihr kurz darauf online veröffentlicht habt.

Brad: Es gibt sie auch in einer limitierten Vinylauflage, aber nicht als CD.

Im Sommer seid ihr auf dem Festival de Jazz in Montréal aufgetreten, wo ihr auch die beiden vorab veröffentlichten Songs „You would have to lose your mind“ und „It came to me“ gespielt habt. Wie waren die ersten Reaktionen darauf?

Brad: Meine Mutter mochte den ersten Song, den wir veröffentlicht haben und meinem Vater gefiel der zweite. Ich denke, dass die Reaktion der Leute auf das Album so ähnlich ausfallen wird und die Meinung wohl gemischt sein wird. Ich weiß nicht, ob es auf dem Album einen Song geben wird, der hervorsticht, eine Art Single. Einige Leute werden bestimmt ins Grübeln kommen, weil wir uns dem ursprünglichen Rock’n’Roll zugewandt haben, der Andrew und mich als wir 13 oder 14 Jahre alt waren zur Musik gebracht hatte. Diesem Einfluss haben wir auf dem Album mehr Raum gegeben als bei den anderen. Die Leute werden vielleicht denken, dass dort mehr Rock’n’Roll zu hören ist, als man uns in den letzten Jahren zugesprochen hat, obwohl wir in meinem Kopf immer Rock’n’Roll gemacht haben, wenn auch in einer ruhigeren Form. Bis jetzt sind die Reaktionen gut und machen Mut. Die Songs werden von einigen Radiosendern in Montréal gespielt. Wie das in anderen Städten in anderen Ländern ist, habe ich noch nicht gehört.
Was das Album angeht, war ich froh, es gemacht zu haben und ich bin zufrieden damit, wie es sich jetzt musikalisch präsentiert. Es dauerte ziemlich lange. Deswegen fühle ich mich jetzt ein wenig immun, was kommende Kritiken angeht. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich jetzt älter bin und weniger auf andere Meinungen gebe. Ich bin einfach nur froh über das Album.

Wie seid ihr diese Mal vorgegangen?

Brad: Nach der SLEEPING OPERATOR Tour haben wir gespürt, dass Sarah, Andrew und ich uns als Trio neu orientieren müssen. SLEEPING OPERATOR war klanglich so groß geworden und ich denke, dass vor allem Sarah ihre Rolle in der Band finden und verstehen musste. Uns allen musste klar werden, wo wir jetzt stehen. Deshalb haben wir beschlossen, mit Improvisationen zu beginnen. Wir haben uns eine Hütte gemietet und uns ein halbes Jahr lang alle zwei Monate für ein bis zwei Wochen dort zurückgezogen und improvisiert. Später haben wir uns das alles angehört. Es waren um die 100 Stunden Material zusammenkommen und wir wollten hören, wo wir standen und sehen, wie wir zusammen spielen wollten. Das war eine andere Herangehensweise für mich, denn ich habe versucht, in diesen Improvisationen Songs zu finden, zu denen ich einen Text schreiben konnte. Sonst habe ich einen Songtext geschrieben und dann haben wir versucht, uns der Vorlage anzupassen. Dieses Mal habe ich versucht, das Songwriting dem Stil anzupassen, der sich auf natürliche Art und Weise ergeben hat, als wir zusammen spielten.
Vieles von den Aufnahmen aus der Hütte ist auf dem Album drauf. Wir haben aber noch eine weitere Session mit Ryan Freeland gemacht, der auch SLEEPING OPERATOR aufgenommen hat. Wir haben ihn aus LA geholt und nochmal eine zweiwöchige Session in Montréal drangehängt, um die Songs fertigzustellen. Dann waren wir noch einmal vier Monate in unserem Studio, um kleine Elemente hinzuzufügen und herauszufinden, was das Album wirklich brauchte. Der Entstehungsprozess war zerstreut, chaotisch und schizophren, weil man denkt, dass man es hat, dann glaubt, es verloren zu haben und so langsam beginnt durchzudrehen. Andrew und ich haben uns gestritten, dann wieder versöhnt und jetzt geht es uns mit dem Album wunderbar.

Wann wusstet ihr genau, dass es fertig war?

Brad: Andrew und ich mussten es allein fertig stellen, weil Sarah direkt nach den Sessions in der Hütte und im Studio mit Ryan Freeland für drei Monate nach Japan gereist ist. Zu der Zeit ist Andrew Vater geworden und wir hatten uns gerade zusammen ein Haus gekauft, das wir fertig renovieren mussten, damit wir mit unseren Familien einziehen konnten. Wir mussten das Album zu Ende bringen. Wir hatten dieses Mal nicht den Luxus, uns Zeit zu lassen. Deshalb habe ich mich gefragt, ob es gut genug ist und das konnte ich bejahen. Und damit war es fertig. Ich hätte gut und gerne noch sechs weitere Monate damit verbringen können, den einen oder anderen Song zu überarbeiten, aber ab einem gewissen Punkt weißt du nicht mehr, ob du es damit besser oder schlechter machst. Dann ist es besser zu sagen, dass es fertig ist und nicht mehr daran zu arbeiten. Meine Familie, mein Leben und auch meine mentale Gesundheit würden dadurch nicht besser, sondern eher den Berg runter gehen, wenn ich jetzt nicht sage, es ist fertig. Ich wusste also, dass wir fertig waren, als ich die Grenze von dem erreicht hatte, was meine mentale Gesundheit und mein Familienleben aushalten konnten.

Nun ist QUEENS OF THE BREAKERS draußen. „Breakers“ hat viele Bedeutungen wie Ausschalter, Mahlwerk oder Wasserfass. Worauf bezieht ihr euch?

Brad: Auch im Englischen hat „breakers“ mehrere Bedeutungen. Unsere ist nicht offensichtlich. „Breakers“ verweist in dem Fall auf eine Villa, die im 18. Jahrhundert von der Familie Vanderbilt errichtet wurde. Sie besaßen eine der größten Stahlunternehmen und waren eine der ersten Millionärsfamilien in den USA. Sie errichteten eine Villa, die sie The Breakers nannten. Ich denke, dass sie sich damit auf das Brechen der Wellen bezogen haben. Die Villa steht nah am Ozean in Newport, Rhode Island. Von dort konnten sie beobachten, wie die Wellen brechen. „Queens of the breakers“ steht für meine Freunde aus Kindheitstagen. Als wir um die 14 Jahre alt waren, dröhnten wir uns zu, probierten LSD und Pilze. Wir zogen die Kleider unserer Mütter an und zogen durch die Stadt. Wir setzten uns in Restaurants und machten uns einen Spaß daraus, Leute zu provozieren, ohne etwas zu sagen, nur, indem wir seltsam aussahen und die Straßen entlang liefen. Einmal besuchten wir die Breakers Villa, die heute besichtigt werden kann. Wir trugen wieder die Kleider unserer Mütter und machten eine Führung mit. Der Song ist eine Ode an meine damaligen Freunde und fasst poetisch zusammen, was ich fühlte, als wir so seltsam und absurd waren. Ich mochte meine Freunde und tue es auch heute noch, auch wenn ich zu einigen den Kontakt verloren habe. Diese Freundschaften bedeuteten mir mehr, als jede andere Beziehung in meinem Leben und sie haben einen tiefen Eindruck hinterlassen, so dass sie einen Song verdient haben, in dem es um sie geht.

Die beiden Songs, die ihr vorab veröffentlicht habt, befinden sich in der Mitte des Albums. War die Anordnung damals schon klar, oder hätten sie das Album auch eröffnen können?

Brad: Wir haben uns für die Songabfolge entschieden aufgrund der Art und Weise, wie wir wollten, dass sich die Songs vor dem Hörer entfalten. Selbst die Leute vom Label wussten nicht, welche Songs wir wählen würden. Sie waren gerade noch dabei, darüber nachzudenken. Wir mussten aber die Master-Sequenz abliefern. Ich habe keine Ahnung, wie die Leute heute Musik konsumieren und wahrnehmen. Hören sie ein Album noch von Anfang bis zum Ende an? Hören sie nur einen Song und legen daraufhin das Album fest? Das Album startet mit „Defibrillation“, darauf folgt „Look before it changes“. Wir haben nicht die großen, vielleicht beliebteren Songs an den Anfang gestellt, sondern haben sie da gelassen, wo sie waren. Die vorab veröffentlichten Songs waren die, mit denen wir begonnen hatten: „It came to me” und dann „Queens of the breakers”. Ich wollte die Leute aber nicht damit in das Album einführen. Ich wollte mit anderen Liedern beginnen. Wenn man sich die Charts für SLEEPING OPERATOR anschaut, tauchen da „Static orphans”, „Love ain’t enough” und ich glaube „Wolves” und „Even the darkness has arms” auf. Es sind also die ersten Songs auf dem Album, die am häufigsten gehört werden. Danach nehmen die Zahlen ab. Darin erkennt man, wie die Leute ein Album hören. Die letzten Songs auf dem Album werden kaum noch angehört. Das ist ein zusätzlicher Faktor, den man berücksichtigen kann, wenn man die Reihenfolge eines Albums bespricht. Eine Weile habe ich versucht, darüber nachzudenken, aber dann konnte ich nicht mehr.

„Defibrillation“ ist ein eingängiges Stück. Darin hört man zwei Herzschläge, die ihr auch in einem kurzen Trailer gezeigt habt. Das Motiv kehrt auch am Ende des zweiten Songs auf.

Brad: Andrew hatte die Idee dazu. Vielleicht hast du in der Presseinfo gelesen, wie er zwei Maschinen gehört hat, die Herzschläge vertonten. Der Song fühlte sich von Anfang an nach dem Eröffnungssong an. Als wir ihn hatten, war uns klar, dass das Album so beginnen sollte. Das ist auch einer der Punkte: Sobald man den Anfang geschafft hat und das erkannt hat, bringt einen nichts mehr davon ab.

In den ersten Songs zeigen sich die Themen, um die es euch ging: das Leben, die Menschheit, das Vergehen von Zeit, das du in „Look befor it changes” aufgenommen hast.

Brad: Dafür kannst du dich bei meinem Sohn bedanken. Durch ihn habe ich etwas erkannt: Man denkt bis zu einem gewissen Punkt, dass es verrückt ist und man sich damit nicht befassen möchte. Vielleicht ist man dann frustriert oder aber dein Kind wird anderthalb Jahre alt und du denkst daran, dass er in einem Jahr ganz anders sein wird und in zwei Jahren wirst du versuchen, dich zu erinnern, wie es sich angefühlt hat, durch ein kleines Kind frustriert zu sein. Du wirst dich danach sehnen und es vermissen, also genießt du es. Sogar wenn es dich verrückt macht, genießt du es, dieses kleine Kind bei jedem seiner Schritte zu begleiten. Das gilt auch für andere Dinge, die man durchmacht.

Mein Lieblingssong ist „Maybe someday”. Was kannst du mir darüber erzählen?

Brad: Der Song unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht von den anderen, die wir aufgenommen haben. Zuallererst ist es ein Song, den wir gecovert haben. Den Text hat mein Freund Nathan Moore geschrieben. Ich habe ja schon in einigen Bands gespielt und auch mit ihm war ich in einer Band. Er ist einer meiner liebsten Songwriter. Der Text stammt also von ihm. Dann ist es Sarah, die darin Gitarre spielt. Von ihr kommt diese Melodie, der Riff. Nur Sarah konnte diese Line einfallen. Und Andrew war davon schnell begeistert und war sich sicher, dass der Song das gewisse Etwas hat. Er wollte, dass wir weiter daran arbeiten. Andrew hat mehrere Drums um den Riff gespielt und hat daraus eine Schleife gemacht. Er hat eine halbe Stunde eingespielt und dann die besten Stücke ausgewählt, die er dann am Schlagzeug verfeinert hat. Ich spiele in dem Song keine Gitarre. Das ist der einzige aller aufgenommen Songs, bei dem ich keine Gitarre spiele. Ich habe nur gesungen. Am Ende spiele ich Mundharmonika. Jetzt muss ich mir überlegen, wie wir den Song auf die Bühne bringen. Wir haben ihn in den Proben bis jetzt noch nicht gespielt. Also muss ich mir das gut überlegen. Da fällt mir ein, ich spiele doch ein wenig Akustikgitarre in dem Track. Es ist ein kleiner Rhythmus im Hintergrund. Die Hauptgitarre spielt Sarah.
Es freut mich zu hören, dass es dein Lieblingssong ist. Mein Bruder wird das sogar noch mehr freuen, denn es war sein Baby, dass er gehegt und gepflegt hat.

Auf dem Album gibt es wieder einen Song, in dem du über Montréal singst.

Brad: Du meinst „Song that I heard”. Ich beschreibe ihn gern als Liebesbrief an Montéal. Ich beschreibe meine Ankunft und erste Zeit in der Stadt. In jeder Strophe beziehe ich mich auf einen Aspekt, der mich zu einem Montréaler gemacht hat. In der ersten Strophe singe ich über den großen Antonio, der zu den stärksten Männern gehörte und in Montréal gelebt hat. Er zählte zu den Berühmtheiten der Stadt. Er hat Züge gezogen und zehn Menschen in die Luft gehoben. Am Ende hat er wie ein Penner auf der Straße ausgesehen und ist gestorben. Jede Strophe enthält einen Moment meines Lebens dort, seit zehn Jahren. Es war der Song, den ich fertig stellen wollte, damit ich mir sicher sein konnte, mit dem Album voranzukommen. Ich hatte ihn lange im Kopf. Ich begann an ihm zu arbeiten, kurz nachdem mein Sohn geboren war und ich habe ein Jahr gebraucht, um ihn zu schreiben. Es hat lange gedauert, um herauszufinden, wie ich ihn schreibe.

Also ist es eine Art Fortsetzung von „Beggar in the morning”?

Brad: In dem Song ging es darum, in einer neuen Stadt anzukommen und ein anonymer Beobachter zu sein, und über diese Rolle gleichermaßen verängstigt und fasziniert zu sein. Man könnte wirklich sagen, dass es in „Song that I heard“ darum geht, was darauf gefolgt ist.