Hubert Lenoir ist ein Beispiel dafür, dass das Festival kontinuierlich Ausschau nach Newcomern hält. Laurent Saulnier ist zu diesem Zweck in Clubs und auf Festivals in Montréal, Québec, Kanada und Europa unterwegs: „Mir ist es wichtig, die Musiker auf der Bühne zu sehen, bevor ich sie ins Programm nehme.“ Zu den Musikern, die er entdeckt hat, zählen eben Hubert Lenoir, der sich mit Lydia Képinski und Émile Bilodeau auch dem anwesenden Brachenpublikum präsentierte, und Klô Pelgag, die im letzten Jahr mit dem Prix Félix-Leclerc ausgezeichnet worden ist, aber auch Yann Perreau und Pierre Lapointe, ein Künstler über dessen Entdeckung der Programmchef besonders Stolz ist: „Seit seinem ersten Auftritt 2002 ist er dabei und seine Karriere hat einen unglaublichen Sprung gemacht, nicht nur hier, sondern auch in Europa.“ Es vergeht keine Ausgabe ohne einen Auftritt von Pierre Lapointe. In diesem Jahr trat er an zwei Abenden im Théâtre Maisonneuve auf. In einem Kreis aus Stangen, die mit verschiedenen Lichtshows bespielt wurden, befand sich ein Klavier und ein Marimba. Pierre Lapointe war in einem langen schwarzen Sacko gekleidet und nutzte den Kreis als Aktionsraum, während er Songs von seinem Album LA SCIENCE DU CŒUR wie „Une lettre“, „Mon prince charmant“ und „Alphabet“ und ausgewählte ältere Stücke wie „Les sentiments humains“, „Les lignes de ma main“ und „L‘étrange route des amoureux“ vortrug. Aufgrund des Setups wurden sie überwiegend in überarbeiteten Versionen dargeboten. Durch sein Programm führte der Sänger mit Anekdoten hier und locker sitzenden Zwischenkommentaren da. Am Ende dankte er dem Publikum und übte Kritik an der Politik in Zeiten einer sich wandelnden Musikindustrie, in der die Kreativen kaum noch Geld für ihr Schaffen bekommen. Dann wurde es in der Zugabe wieder musikalisch und Pierre Lapointe performte u.a. mit Julien und Hubert Lenoir den gemeinsam geschriebenen Song „Pour déjouer l‘ennuie“.
Weitere Konzerte gab es, ebenfalls im Théâtre Maisonneuve, von Fanny Bloom, im Astral von Fred Fortin und im Club Soda von Lary Kidd und Rymz. Ebenfalls im Club Soda waren an einem Abend Mon Doux Saigneur, Les Royal Pickels und Canailles aufgetreten. Mon Doux Saigneur eröffnete den Abend mit Songs von seinem Debütalbum wie „Primitif“ und „Ici-bas“ und neuen Songs wie „Tempérence“ und „Traîne Marie“. Mit „Poff-poff“ verabschiedete er sich. Es folgte die Swingband Les Royals Pickles, die mit ihrem Sound, Instrumenten wie dem Waschbrett sowie Tanz- und Steppeinlagen für gute Stimmung sorgten und für einen Song auch Mitglieder von Canailles und Mon Doux Saigneur auf die Bühne holten. Dann übernahmen als Headliner des Abends Canailles. Die Band besteht aus acht Mitgliedern, die sich vor Jahren in einem Montréaler Park getroffen haben. „Es war an einem sehr warmen Sommertag, einfach ein perfekter Tag, an dem Freunde zusammengekommen sind. Wir haben aus Spaß Songs gecovert. Danach haben wir uns wiedergesehen und eine Coverband gegründet. Wir haben in kleinen Bars gespielt, weil wir da Bock drauf hatten. Mit der Zeit verloren wir die Freude daran, Musik von anderen zu spielen und auf Englisch zu singen. Also haben wir uns dem französischen Chanson zugewendet und das mit dem Sound verbunden, den wir kannten“, erzählt Daphné Brissette, die der Band ihre bemerkenswerte Stimme leiht. Das gemeinsame Musizieren fand mit Instrumenten wie Akkordeon, Banjo und Ukulele statt. Dazu kam der gemeinsame Gesang, bei dem sich die Harmonien ganz natürlich formten, erinnert sich Ukulelespieler Erik Evans, den die außergewöhnliche Stimme von Daphné damals überraschte. Er hatte keine Ahnung, dass sie singen konnte. Ihr durch Americana inspirierter Sound hat von Anfang an Anklang gefunden und auch wenn der Auftritt dieses Mal vor weniger Leuten stattfand, was wohl am Freiluftkonzert von Éric Lapointe zur selben Zeit lag, wussten sie, wie Spaß auf der Bühne und Animation des Publikums geht. Nach 600 gespielten Konzerten in Québec, dem anglophonen Kanada und Europa darf man das aber auch erwarten. Wie kommt es, dass ihre Musik auch außerhalb von Québec ankommt? „Na klar geht es auch um das, was wir singen, aber die Musik nimmt mehr Platz ein und daher“, vermutet Daphné, „kann man unsere Auftritte genießen, auch wenn man unsere Texte nicht versteht.“ Während ich mich an ihren Auftritt auf der Hauptbühne der Francos noch gut erinnere, erinnert sich die Band vor allem an einen Auftritt in Tadoussac, bei dem sie im Schlamm standen und der Ton schlecht war. Als sie vom Publikum die Rückmeldung bekamen, dass man sie nicht hört, haben sie die Instrumente ausgeklingt und sind mitten unter die Leute. Der Auftritt wurde zu einer richtige Party und bleibt unvergessen. Ihr Konzert im Club Soda bestand aus einem gelungenen Mix aus wilden Stücken und ruhigeren Songs. Das Publikum tanzte, pogte und führte eine Polonaise durch den Club. Seinen Abschluss fand der Abend in einer Zugabe, bei der sich Bernard Adamus zur Band gesellte. Das Publikum war begeistert und hätte gerne einen seiner Songs gehört, allerdings ließ sich Adamus, der gerade eine Auszeit macht, nicht überzeugen. Die Versuche von Canailles „Hola les lolos“ oder „Rue Ontario“ anzustimmen, scheiterten. Also gab es was von Canailles, und nicht irgendeinen Song, sondern mit „J’l’haïs“, fast schon einen Klassiker, mit dem die Band ihre Auftritte gerne beendet, wie Erik erklärt: „Oft spielen wir zum Schluss diesen Song. Ich mag ihn, weil wir alle singen. So wie „Titanic“ unsere Visitenkarte ist und von uns erzählt, so ist „J’l’haïs“ die Art von Song, mit dem wir uns bei den Leuten bedanken.“
Auf dem Festivalgelände verteilte sich das Programm auf fünf Freiluftbühnen. Zwischen den Bühnen gab es verschiedene Food Trucks und Bars, die für das leibliche Wohl der Leute sorgte und es überhaupt erst ermöglichte, dass die Konzerte dort kostenlos sind. Auf den Freitluftbühnen spielten Newcomer wie Yokofeu im Festzelt, Debbie Tebbs auf der Desjardins-Bühne, AMÉ auf der Sirius XM-Bühne, Ludovic Alarie auf der Loto-Québec-Bühne und Choses Sauvages auf der Hydro-Québec-Bühne. Choses Sauvages zählen zu den Bands, die das Festival früher selbst als Zuschauer besucht haben und nun total happy sind, dort aufzutreten. Auf diesen Moment haben sich die fünf Jungs lange vorbereitet, waren in den letzten Jahren viel in Montréaler Clubs unterwegs, darunter dem ehemaligen divan orange, der fast ihr zweites Zuhause war, so oft sind sie dort aufgetreten. Sie haben zwei EPs selbst produziert und vieles ausgetestet. Sie waren für alles selbst verantwortlich, was mit dem Musikerdasein zusammenhängt. Nun bekommen sie Unterstützung von einem Label. Das erste Album ist fertig, auf dem Songs veröffentlicht sind, die „von sehr persönlichen Erlebnissen wie Trennungen, aber auch von Partys, durchzechten Nächten und Abenden in Bars handeln“, umschreiben sie. Und auf den Francos brachten sie ihre neuen Songs auf die Bühne, darunter „ Ariane“, „Poussière“ und „Hualien“. Die Band beschreibt ihren Sound so: eine Prise New Wave, beeinflusst von Talking Heads, die sie bewundern, eine Prise Jazz und ein Hauch von R‘n‘B. „Es ist eine Mischung aus verschiedenen Einflüssen aber letztendlich ist es Popmusik, gemischt mit New Wave und Disco“, erklären sie und fügen hinzu: „Am meisten geprägt ist unsere Musik aber davon, dass wir sie zusammen komponieren.“ Zuerst entsteht in zahlreichen Improsessions das musikalische Gerüst eines Songs. Sobald sich dabei etwas abhebt, wird aufgenommen. Erst, wenn das Gerüst steht, folgt die Arbeit am Gesang und Text. „Was wir machen, unterscheidet sich von dem, was gerade in Mode ist“, sagen sie und meinen damit die Hip-Hop Welle, die durch Québec zieht und deren Vertreter in den letzten Jahren zunehmend auch Einzug in das Programm der Francos gefunden haben. 2016 wurde das Festival von Hip-Hoppern und Rappern eröffnet. Nach ihrem ersten Auftritt auf den Francos konzentriert sich die Band, deren Name vom Maurice Sendaks Buch Where the Wild Things Are inspiriert ist, nun ganz auf die Musik und strebt auch Auftritte auf der anderen Seite des Atlantiks an.
Neben den Newcomern traten auch etablierte Acts wie Dany Placard, Vincent Vallières, Xavier Caféïne, Damien Robitaille und Les Breastfeeders auf. Sie sorgten für tolle Nachmittage und Abende, die mal gemütlich sitzend auf der Wiese in der Sonne, mal stehend im Nieselregen verbracht wurden, aber jedes Mal gemeinsam mit anderen Musikfreunden. Besonders auf der Hauptbühne wurde Musikfans einiges geboten. Daniel Bélanger und Klô Pelgag brachten ihre Show vom letzten Jahr nun einem weitaus größeren Publikum nahe. Patrice Michaud unterhielt die Leute mit einer stimmungsvollen Show an selber Stelle. Es war sein achtes Konzert auf den Francos in acht Jahren. Und schließlich gab es auch jede Menge Hip-Hop im Programm, womit der Programmchef den veränderten Gegebenheiten nachgeht: „Seit etwa 20 Jahren hat sich der Behälter kaum verändert. Was sich verändert, ist der Inhalt. Der Inhalt hat sich entwickelt, weil sich die Musik im Allgemeinen und die frankophone Musik in den letzten Jahren weiterentwickelt hat. Vor 15 Jahren hätten wir uns nicht vorstellen können, dass Hip-Hop so viel Raum im Programm des Festivals bekäme, denn damals hatte er noch nicht die Popularität wie heute.“ Vertreter aus dieser vor allem unter dem jungen Publikum beliebten Sparte waren Lary Kidd, Rymz, die Gewinner der letzten Francouvertes LaF, Eman X Vlooper und zur besten Zeit auf der Hauptbühne Alaclair Ensemble und die Dead Obies, die seit 15 Jahren unterwegs sind. Sie unterhielten ein durchmischtes Publikum mit ihrer guten Laune und ihren Songs wie „Look @ my life“, „Everday“, bei dem die Handylichter angeknippst wurden, und „Where they @“, und als Zugabe u.a. „Tony Hawk“.
Einen Tag nach dem Konzert der Dead Obies traten die Rapkeb Allstarzs an gleicher Stelle auf, ein Kollektiv aus Koriass, Alaclair Ensemble, Rymz, Lary Kidd, Dead Obies, Taktika, Joe Rocca und Brown. Sie hatten in den Tagen zuvor im Studio Bell geprobt. Die Proben und die Entstehung neuer Songs wie „All Zay“ konnten im Internet begleitet werden. „All Zay“ kann via francofolies.bandcamp.com herunterladen werden.
An einem Sonntag gingen die Francos zu Ende. Laurent Saulnier begrüßte ein letztes Mal das Publikum, das an diesem Abend zahlreich erschienen war. Nachdem Yann Perreau ein Hommage-Konzert an den Musiker Jacques Higelin abgeliefert hat, hieß es Bühne frei für die Show Stone, in der außergewöhnliche Sängerinnen und Musikerinnen die Lieder von Luc Plamondon interpretierten. Energiegeladene und beeindruckende Performances von Martha Wainwright, Betti Bonifassi, La Bronze und Marie-Pierre Arthur wechselten mit ruhigeren Balladen von Beyries, Klô Pelgag und Safia Nolin. So kamen die Frauenstimmen, die man im diesjährigen Programm vielleicht etwas vermisst hat, am Ende geballt zusammen. Dieses Abschlusskonzert schafft es vielleicht auf die eine oder andere Favoritenliste langjähriger Francos-Besucher. Bei mir stehen dort die Konzerte von Ngâbo 2011, Klô Pelgag 2012 und das Jubiläumskonzert vor fünf Jahren. Der Programmchef schwelgt weniger in Erinnerungen, auch wenn er seine ganz persönlichen Topmomente hat, und blickt lieber nach Vorne: „Ich finde es sehr aufregend, dass wir mit Hubert Lenoir in diesem Jahr jemanden haben, der auch in den nächsten Jahren noch da sein wird und mit dem wir neue Konzerte, Konzepte und Ideen umsetzen werden, ähnlich wie mit Klô Pelgag, Pierre Lapointe, Yann Perreau und vielen weiteren.“ Die Wagnisse, die das Festival eingeht, davon ist er überzeugt, zahlen sich aus, denn „es ist nicht dasselbe, einen Auftritt auf Youtube zu sehen oder mit tausenden anderen Leuten gemeinsam einen Musiker live zu erleben. Das [Liveerlebnis] wird nichts ersetzen.“
Im nächsten Jahr findet vom 14. bis 22. Juni die 31. Ausgabe der Francos statt. Weitere Infos gibt es auf francosmontreal.com.